Elfhundert Jahre Volkslied und Volkstanz in Deutschland. Doch, keiner tanzt und singt!

Elfhundert Jahre Volkslied und Volkstanz in Deutschland. Doch, keiner tanzt und singt!

Das „Bovoliedchen“ gilt als ältester Hit des deutschen Volkes

Kaiser Heinrich II. und Kaiserin Kunigunde ziehen festlich gekleidet im Jahr 1021 in Merseburg ein, denn nach sechsjähriger Bauzeit wird der stattliche Dom eingeweiht. Der Herrscher des Heiligen Römischen Reiches zeichnet viele Urkunden und erwähnt in jenem Jahr auch das hessische Dorf Wommen, das über neun Jahrhunderte später, für vier Jahrzehnte ein Ort im Blickpunkt der Geschichte, direkt an Mauer und Stacheldraht, der innerdeutschen Grenze sein wird. Der Merseburger Dom mit seiner wertvollen Bibliothek ist heute ein bedeutendes Baudenkmal der Romanik, das Städtchen Wommen erblüht heute im Schatten des „Monte Kali“, eines gigantischen Salzberges. Zwei berühmte Zeugnisse deutscher Geschichte. Aber wer erzählt elfhundert Jahre später noch vom ältesten deutschen Volks- und Tanzlied, das ebenfalls im Jahre 1021 erstmals aufgeschrieben worden ist?


Das älteste Lied des deutschen Volkes?


Das bis heute überlieferte „Bovo-Liedchen“ aus dem Jahr 1021 gilt als das älteste überlieferte Volkslied der Deutschen und ist älter als der legendäre Minnesang der Wartburg. Aus dem Lateinischen übertragen lautet seine erste Zeile „Durch den grünen Wald Herr Bovo ritt; Merswind, die Schöne, die führte er mit; Was stehn wir? Auf, gehen wir!“. Es ist ein typisches altes Volkslied, das zum Tanze auffordert. Der Sänger begann und Herr Bovo und seine Liebste Merswind traten in die Kreismitte, bei jeder neuen Strophe kam ein weiteres Pärchen hinzu, bis sich der ganze Platz zum Tanzreigen füllte. Wir kennen in der deutschen Trachtenfamilie noch heute viele solche Formen des Tanzes und es sind Menschen wie wir, die Tracht tragen, die über elfhundert Jahre lang Volkslied und Volkstanz erhalten. Unsere Arbeit liegt nicht zugeklappt zwischen zwei Buchdeckeln, unsere Arbeit ist das Miteinander der Gruppen oder das gemeinsame Lernen mit den Jüngsten. All das, was unsere Arbeit ausmacht, was ihr ständig neue Impulse verleiht, das liegt nun schon seit über einem Jahr brach. Das gemeinsame Miteinander beschränkt sich auf SMS und WhatsApp-Nachrichten, wenn`s hochkommt auf ein Telefonat und ganz selten auf einen Brief, wie ich ihn so gerne schreibe.


   

Folkloretanzgruppe Kaltenlengsfeld singen Volkslieder


Chöre, die es bereits seit Jahren schwer haben junge Mitglieder zu finden, haben ihre Stimme verloren und somit gar keine Chance neue Töne zu finden. Ältere Sängerinnen und Sänger haben Angst vor Ansteckung und warten sehnlichst auf die erlösende Impfung. Zurück in die Normalität ist der Wunsch des Ehrenamts. Die Menschen sehnen sich nach Begegnung, nach gemeinsamen Lachen und dazu gehört eben auch das Singen, dazu gehört der jauchzende Schrei und eben ganz bestimmt auch das Tanzen.


Ein altes Thüringer Lied


Lieder haben die Menschheit durch alle Zeiten begleitet und jeder deutsche Landstrich hat seine Lieder, oft uralt und hundertfach bearbeitet. Wer zum Beispiel denkt „Thüringen holdes Land“ oder „Ich wandre ja so gerne am Rennsteig durch das Land“, das wären die Lieder Thüringens, der irrt gewaltig. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts machen Musikwissenschaftler darauf aufmerksam, das in der „Mansfeldischen Chronica“ von Cyriacus Spangenberg, gedruckt in Eisleben 1572, bereits ein „Thüringer Lied“ veröffentlicht worden ist, dessen Text noch heute aktuell ist: „Aber, so wollen wir heben an; wie sich`s hat angeschwungen; Es ist unser Land so Gestalt; das wir nie treiben groß Gewalt; Darauf haben wir gesungen. Thüringer Land, du bist ein feines gutes Land; Wer dich mit Treu tut meinen; Du gibst uns Weizen und Wein so viel; du kannst ein ganzes Volk ernähren; und bist ein Land von den kleinen.“


Lieder, die wie Brücken sind!


Lieder haben uns so oft geholfen nach schweren Schicksalsschlägen oder in aussichtlosen Situationen einen Neuanfang zu finden. Unvergessen ein Auftritt des Alexandrow-Ensemble auf dem Berliner Gendarmenmarkt im Jahr 1948, als der russische Sänger Viktor Nikitin das Lied „Im schönsten Wiesengrunde“ anstimmte und eine in Trümmern liegende Stadt mitsummte. Menschen, deren Häuser in Schutt und Asche lagen, sangen „….liegt meiner Heimat Haus, von dort ging ich manche Stunde, ins Tal hinaus. Dich mein stilles Tal, grüß ich tausendmal…..“. Als dann noch das „Heidenröslein“ von Johann Wolfgang von Goethe erklang, brach wahre Begeisterung aus. Russische Soldaten, deren Familien starben durch Hitlers Krieg, sangen deutsches Liedgut. Lieder in der Sprache des ehemaligen Feindes wurden zu Botschaftern von Frieden und Versöhnung.


Ähnlich ging es frenetisch kreischenden Frauen, die einer musikalischen Hysterie nahe waren, als ihr Idol Elvis Presley im Jahr 1960 das Lied „Wooden heart“ anstimmte und jeder mitsang „Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus“. Noch heute ist dieses uralte deutsche Volkslied, durch diese Interpretation weltbekannt. Es gibt nur noch wenige Bergleute, die Kohle und Erze oder Salze aus der Erde holen. Der schwere Beruf des Bergmannes ist alternativlos dem Klimaschutz zum Opfer gefallen. Damit treten auch die Bergmannschöre von der Bühne ab, aber ihr Lied „Glück auf, Glück auf, der Steiger kommt….“ wird bleiben und jeder gute Chor wird damit sein Publikum zum Mitsingen bewegen. Manches Lied braucht auch nur einen berühmten Interpreten und schon heißt es „Alles singt“ und ein ganzes Volk stimmt ein. Er saß nie auf einem gelben Wagen und trotzdem schaffte es 1973 der damalige Bundesaußenminister Walter Scheel (1919-2016) sich mit dem Lied des Thüringers Rudolf Baumbach in die Herzen der Deutschen zu singen. Leidenschaftlich schmetterte der liberale Politiker „Hoch auf dem gelben Wagen, sitz ich beim Schwager vorn, vorwärts die Rosse traben, lustig schmettert das Horn….“ stürmte damit zuerst die Hitparaden und kurz danach wurde er der vierte Bundespräsident der BRD, was wiederum beweist, das Volkslieder auch bei der Karriere sehr behilflich sind.


1778 – Das Volkslied wird benannt!


Unsere Welt ist voll Musik, aber wahre Volkslieder gibt es keine mehr, denn es fehlen glaubhafte Komponisten und Interpreten. Der Thüringer Johann Gottfried Herder (1744-1803) veröffentlichte im Jahr 1778 erstmals eine Liedersammlung „Stimmen der Völker“ in der er für Lieder aus dem Volke den Titel „Volkslied“ verwendete. Aber erst im Jahr 1799, als in Gotha „Das Mildenheimsche Liederbuch“ erscheint, ist die erste große Volksliedsammlung auf dem Buchmarkt.


Das bisher wohl letzte glaubhafte Volkslied der Deutschen schrieb der Leipziger Helmut Richter (1933-2019) und Ulrich Swillms schuf dazu eine Melodie, die besonders den Deutschen in Ost und West Kraft und Halt vermittelte und die Zuversicht gab, dass der Weg sich lohnt, denn „Über sieben Brücken musst du gehen, sieben dunkle Jahre überstehn, siebenmal wirst du die Asche sein, aber einmal auch der helle Schein…..“. Die Gruppe „KARAT“ und Peter Maffay sorgten weltweit für die Popularität dieses außergewöhnlich schönen Liedes.


Gruppe Karat zur Preisverleihung "Der Friedenstein" am 28. Juni 2016 in Gotha (Foto: Lutz Ebhardt)



Als Helmut Richter 1975 seinen Text veröffentlichte von zweimal sieben Jahren, konnte er nicht ahnen, welche Kraft seine Zeilen auslösen, denn genau nach sieben dunklen Jahren und sieben Gängen durch die Asche brach am 9.November 1989 durch die Friedliche Revolution im Osten die DDR zusammen. Nicht ohne Grund hat Bundespräsident Joachim Gauck zum Abschied aus dem Amt beim Großen Zapfenstreich dieses Volkslied gewählt. Zu Recht bekamen das Lied, sein Texter, sein Komponist und die Erstinterpreten "KARAT" im Jahr 2016 in Gotha den Preis „Der Friedenstein“.


Perspektiven für Lied und Tanz!


Am Ende der Pandemie mit neuen Konzepten aufwarten, das muss unser aller Ziel sein. Dabei müssen wir nicht alles neu erfinden, sondern einfach den Blick nach Norden schicken. In einem der ältesten Freilichtmuseen der Welt, dem SKANSEN im schwedischen Stockholm, gibt es etwas Tolles. Alljährlich im Sommer kommen die schwedischen Größen der Pop- und Schlagerszene zum „Allsang pa Skansen“ und singen mit tausenden Menschen schwedische und internationale Volkslieder, auch „Wooden heart“ erklingt dort zum Abschluss. Warum sollte es uns in Deutschland nicht gelingen Helene Fischer oder Max Giesinger, Yvonne Catterfeld oder Johannes Oerding und viele weitere Stars davon zu begeistern, gemeinsam mit uns den Menschen in Tracht zu singen? Wir stehen für den Erhalt der deutschen Sprache, für die Verbreitung der deutschen Musik und des deutschen Volkslieds. Wenn uns der Spagat gelingt Profis und Laien zusammen zu führen, da wird keiner mehr fragen „Horch was kommt von draußen rein“, kann doch nur das „Ännchen von Tharau“ sein, denn jeder weiß, „Am Brunnen vor dem Tore“ und „Vor meinem Vaterhaus steht eine Linde“ sind Werte und Orte unserer Heimat. Stellt dann noch einer fest „Ich weiß nicht was soll es bedeuten“ wenn „Alle Brünnlein fließen“ dann wird es Zeit, vor dem „Ade zur guten Nacht“ zu sagen „Wahre Freundschaft soll nicht wanken“. Und immer daran denken „Die Gedanken sind frei…“. Auf geht’s.


Knut Kreuch

Landesvorsitzender